Die Streaming-Plattform Twitch war zu Beginn vor allem für Eines bekannt: Gaming. Von Battle-Royale-Matches in Fortnite über Zelda-Speedruns bis hin zum beliebten GTA-5-Roleplay lässt sich auf Twitch auch heute noch alles finden, was das Herz eines jeden Videospielliebhabers begehrt.
Spätestens seit der Einführung der „Just Chatting“-Rubrik locken aber auch andere Arten von Streams ein großes Publikum an. Daran störten sich lange Zeit nur wenige User*innen. Das änderte sich als die ersten Streamerinnen in Bikinis auftauchten. Knapp bekleidet aus einem Pool mit Zuschauer*innen interagieren – das ist die simple Prämisse der sogenannten „Hot Tub“-Streams. Urplötzlich schien sich die Community einig zu sein: Dieser Content gehört nicht auf Twitch (!!!). Twitch ist eine Gaming-Plattform (!!1!).
Der reichweitenstarke deutsche Streamer Staiy schrieb etwa in einem Twitter-Thread Anfang April, es würde sich bei den Streams der leicht bekleideten Damen um Pornografie handeln. Die Streamerinnen würden demnach frech eine Lücke in den Richtlinien von Twitch ausnutzen, um sich knapp bekleidet im Stream zu zeigen und Werbung für ihre Ü18-OnlyFans-Accounts zu machen (eine Abo-Seite, über die Menschen kostenpflichtig erotische oder pornografische Inhalte anbieten können) – ein absolutes No-Go, das Twitch sofort unterbinden sollte, wenn es nach dem Streamer und vielen Kommentator*innen ginge.
Komisch, das Thema Jugendschutz im Internet schien zuvor recht wenige Gamer*innen interessiert zu haben –OnlyFans-Werbung auf sozialen Medien wie Twitter und Reddit, oder auch Pornoseiten ohne richtige Altersprüfung gibt es schon lange im Netz. Einen Aufschrei darüber aus Gaming-Communitys nicht. Auch das Argument, dass Ü18-Inhalte nichts auf Twitch zu suchen hätten, scheint vorgeschoben. Immerhin werden auf Twitch ständig Spiele gestreamt, die erst ab 18 Jahren freigegeben sind. Auch hier gibt es keine breite Empörung.
Dass es den Kritiker*innen der „Hot Tub“-Streams also angeblich um das Ansehen der Plattform oder gar um das Wohl minderjähriger Zuschauer*innen gehe, wirkt unglaubwürdig. Doch worum geht es dann? Spätestens, wenn nicht mehr Twitch als Unternehmen kritisiert wird, sondern Streamerinnen persönlich beleidigt werden, wird klar: Hier wird Sexismus offen ausgelebt.
Sexy zu sein, ist kein Verbrechen
Dass die Inhalte der Hot-Tub-Streamerinnen überhaupt als „pornografisch“ angesehen werden, stellt schon das erste Problem dar. Das Zeigen von Pornografie ist ein Verstoß gegen die Community-Guidelines von Twitch, die Streamerinnen verstoßen aber nicht gegen diese. Badebekleidung und Pool-Streams sind ausdrücklich erlaubt. Twitch fordert, dass der Genitalbereich und Brustwarzen von sich als weiblich identifizierenden Personen bedeckt bleiben. Und auch abseits der Twitch-Guidelines lassen sich die Hot-Tob-Streams zwar als erotisch und sexy bezeichnen, jedoch nicht als Pornografie.
Wie Twitch selbst in einem Statement zur Situation erklärt hat, gilt ein wenig nackte Haut nicht als sexuelle Handlung oder sexuell suggestiver Inhalt, der verboten gehört. Im Blog-Eintrag heißt es:
„(…) von anderen als sexy angesehen zu werden, verstößt nicht gegen unsere Regeln und Twitch wird keine Maßnahmen gegen Frauen, oder irgendwen, aufgrund ihrer wahrgenommenen Attraktivität durchsetzen.“
Zusammengefasst: Frauen werden auf Twitch nicht dafür bestraft, dass Männer sie attraktiv finden – eine wichtige Stellungnahme.
Und trotzdem sind vor allem männliche Gamer wütend und pochen auf ihre Meinung: Twitch sollte diese Inhalte nicht erlauben. Für ihre selbstbestimmt gewählte, knappe Kleidung werden die Streamerinnen als Sex-Objekte angesehen. Immer wieder werden sie als niveaulos bezeichnet oder aufs Übelste beleidigt – als hätten sie kein Anrecht auf psychische Unversehrtheit, als seien sie keine vollwertigen Menschen. Interessanterweise belegen Studien, dass attraktive Frauen eher wie Objekte behandelt werden, umso sexistischer die Denkweise eines Individuums ist.
Die „Pornografie“-Schreier scheinen vor allem ein Problem damit zu haben, dass Frauen sich aus freien Stücken und für ihre eigenen Zwecke in knapper Kleidung zeigen. Wenn Frauen nämlich von Männern übersexualisiert dargestellt werden, in Games zum Beispiel, ist das alles kein Problem. Immerhin werden online noch immer Spieleentwickler dafür verteidigt, wenn ihre weiblichen Charaktere Rüstungen tragen, die sie eher für einen „Victoria’s Secret“-Laufsteg qualifizieren als für die nächste Schlacht. „Kunstfreiheit“ heißt es dann. Aber echten Frauen Freiheiten zuzugestehen, wenn es um ihre eigenen Körper geht? Das ist nicht drin.
Die Verurteilung von Pool-Streamerinnen zeugt außerdem von einer starken Doppelmoral. Männer müssen nicht dieselben respektlosen Sprüche ertragen, wenn sie sich oberkörperfrei auf Twitch zeigen. Männer müssen sich generell nicht bedecken, um weiterhin wie Menschen behandelt zu werden. Mir ist nicht bekannt, dass es für Streams, in denen Männer sich oberkörperfrei oder in Badebekleidung zeigten, große Aufschreie gab, oder Beleidigungen wie „Nutte“, „Prostituierter“, oder attestiert wurde „Der verkauft seinen Körper für Geld.“

Sexismus auf Twitch: Natürlich sind die Frauen schuld
In diversen Online-Diskussionen zum Thema finden sich immer wieder Kommentare, die meinen „Hot Tub“-Streamerinnen würden sexistisches Verhalten provozieren. Laut dieser Argumentation seien sie „selbst schuld, wenn sie in den Kommentaren sexuell belästigt und beleidigt werden“. Ein Narrativ, das sich gefährlich nah am „Kein Wunder, dass sie vergewaltigt wurde, sie hatte ja auch ein knappes Kleid an“ bewegt. Anstatt Täter für ihr übergriffiges Verhalten zur Verantwortung zu ziehen, wird die Schuld umgekehrt und den Opfern sexueller Gewalt zugeschoben. Und auch Worte können Gewalt sein.
Aus feministischen Bewegungen entstammt der Begriff der Vergewaltigungskultur. Dieser bezeichnet eine Gesellschaft, in der die Schuld an sexueller Übergriffigkeit zuerst beim Opfer (meist weiblich) gesucht wird um den Täter (meist männlich) zu entlasten und sein Verhalten zu entschuldigen. Wird also eine Frau sexuell belästigt, habe sie das mit ihrer Kleidung und ihrem Verhalten provoziert. Dem Mann wird hier abgesprochen, Kontrolle über – und damit Verantwortung für – für seine sexuelle Triebhaftigkeit zu haben, da er nun Mal so beschaffen sei, was Frauen wissen und sich entsprechend dem anpassen müssten. Hinter diesem Denken stecken sexistische Machtstrukturen.
Auch wenn wir uns gern einreden, dass dieser Begriff nicht auf unsere Gesellschaft zutrifft, zeigen Argumentationen wie jene zu den Hot-Tub-Streams immer wieder, dass diese Denkmuster vorhanden sind und breite Zustimmung finden können. Es handelt sich um Alltagssexismus, dessen Implikationen und Folgen leider nicht jedem bewusst sind.
Und dieser versteckt sich eben oft unter dem Deckmantel der guten Absichten. Einige unreflektierte Kommentatoren verurteilen die Hot-Tub-Streams nämlich auch dafür, dass sie angeblich ein schlechtes Licht auf alle anderen weiblichen Streamerinnen würfen. Die Streams der Pool-Streamerinnen hätten demnach üble Konsequenzen für andere Frauen auf Twitch: Sexismus und plötzliche Forderungen, dass sich die Streamerinnen ausziehen sollen, zum Beispiel (auch hier wird die Verantwortung von den Akteuren auf die Opfer übertragen).
Wer diese Rhetorik verteidigt, scheint in den letzten Jahren unter einem Stein gelebt zu haben. Denn das alles ist leider nichts Neues für Streamerinnen, existierte schon lange vor den Hot Tubs. Seit den ersten Twitch-Streams klagen Streamerinnen über unangemessene Kommentare, die sie auf ihr Geschlecht und ihre Attraktivität reduzieren. Um von den Streamerinnen Freizügigkeit zu fordern, schieben misogyne Zuschauer jetzt eben nicht mehr das Argument der „Titten-Streamerinnen“ vor (Streamerinnen werden dafür gescholten, nach Ansicht mancher Zuschauer ihre Brüste zu sehr zu betonen). Stattdessen werden anzügliche Kommentare jetzt einfach mit der Existenz von Hot Tubs gerechtfertigt. Von „Zeig mal mehr Ausschnitt“ zu „Zieh dir einen Bikini an.“ Es hat sich nichts geändert.
Was hier wieder passiert: Männer benehmen sich Frauen gegenüber daneben, andere Frauen müssen es ausbaden. Keine Pointe. Wer mit vermeintlich guten Intentionen von Freizügigkeit abrät, gegen Hot-Tub-Streamerinnen schießt, weil er andere Frauen vor sexistischen Kommentaren schützen wolle, der nimmt den Tätern, den Verfassern dieser Kommentare, die Verantwortung ab und zeigt ihnen, dass ihre Ausreden funktionieren. Und das ist genau, was sie wollen: sich weiterhin, gesellschaftlich akzeptiert, frauenfeindlich und übergriffig äußern, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Wer den Kopf für dieses Verhalten hinhalten muss, sind ein paar leicht bekleidete Damen, die nichts für die ekelhaften Kommentaren notgeiler Gamer können.
Frauen stimmen in die Frauenfeindlichkeit mit ein
Traurigerweise wird das Nonsens-Argument, dass Hot-Tub-Streams ein schlechtes Licht auf alle anderen Streamerinnen werfen, nicht nur von angeblich wohlwollenden Männern verbreitet. Auch manche Streamerinnen schließen sich dem an. So beschwerte sich vor einigen Monaten QTCinderella: Hot Tub-Streamerinnen würden ihren Job erschweren. Zwar unterstütze sie die Art der Streams genauso wie die Tatsache, dass Manche damit ihr Geld verdienen. Twitch sei dafür aber die falsche Plattform, denn seit dem Aufkommen der Streams erscheinen immer mehr Leute in ihren Streams, die nun die gleichen feuchtfröhlichen Inhalte von ihr fordern. Man kann ihr nicht vorwerfen, davon genervt zu sein. Doch macht sie sich damit, ins gleiche Horn zu stoßen, wie viele männliche Gamer, zu einem für diese nützlichen Token.
Es ist besonders frustrierend mit anzusehen, wenn Frauen sich lieber gegenseitig dafür beschuldigen, wie Männer sie behandeln, anstatt endlich anzuerkennen, dass niemand sonst als sexistische Männer etwas für den mangelnden Respekt können, den sie Frauen entgegenbringen. Die Ablehnung der Pool-Streamerinnen wird von Frauen oft damit begründet, dass sie wegen ihnen nicht ernst genommen würden auf der Plattform – und wahrscheinlich allgemein in Gamer-Kreisen. Durch ein „Ich bin nicht wie die“-Statement erhoffen sich viele, den toxischen Gamern in der Debatte zu zeigen, dass sie zu den „guten Frauen“ gehören. In der Hoffnung auf mehr Respekt. In vielen Fällen funktioniert es sogar. Dafür bestärkt so etwas Männer aber auch in ihrem sexistischen Denken und in ihren Beleidigungen gegenüber den anderen, „schlechten“ Frauen, die sie als „H*ren“ und ähnliches bezeichnen. Sie verinnerlichen die Rollen, die sie von sexistischen Männern zugeteilt bekommen.
Die Zukunft der „Hot Tub“-Streams
Mittlerweile haben die kontroversen Streams ihre eigene Rubrik auf Twitch bekommen: „Pools, Hot Tubs, and Beaches“. Obwohl man meinen könnte, dass dies ein gelungener Kompromiss seitens Twitch ist, regen sich Gamer weiterhin über die bloße Existenz der Streams auf. Und das mit lautstarker Überzeugung, es aus moralischen Gründen zu tun. Die Argumente bleiben gleich.
Dem Anschein nach setzen sich die Kritiker ein für die armen, „normalen“ Streamer, die jetzt weniger Zuschauer hätten, obwohl sie eigentlich ein komplett anderes Publikum ansprechen. Für den Ruf der „Gaming“-Plattform, obwohl es schon seit Jahren andere Formate als nur Videospiel-Content gibt. Für angeblich verstörte Kinder, als wären nackte Frauenkörper etwas schrecklich Obszönes und als hätten Minderjährige auf Twitch nicht auch Zugriff zu USK18-Spielen, ohne dass es viele stört. Und natürlich für die „guten“ Streamerinnen, die sexistische Kommentare abbekommen, obwohl das Beschuldigen der Hot-Tub-Streams eindeutig eine Ausrede von Sexisten ist, die von vielen blind verteidigt wird.
Anstatt sich den frauenfeindlichen Kommentaren unüberlegt anzuschließen, sollte man sich vielleicht einmal damit auseinandersetzen, warum einen diese Art von Streams wirklich stört, ob es nicht vielmehr eine Frage des persönlichen Geschmacks ist und ob verinnerlichter Sexismus – in welcher Ausprägung auch immer – vielleicht etwas damit zu tun haben könnte.